Keine Wartepflicht des Geschädigten auf Restwertangebot des Versicherers
OLG Hamm, Urteil vom 11.11.2015, AZ: I-11 U 13/15
Hintergrund
Die Parteien streiten, welchen Restwert sich der Kläger bei der Abrechnung seines Fahrzeugschadens anrechnen lassen muss. In dem vom Kläger nach dem Unfall eingeholten Schadengutachten wurde der Restwert auf der Grundlage von vier auf dem regionalen Markt eingeholten Restwertangeboten mit 10.750,00 € beziffert. Der Kläger veräußerte sein Fahrzeug sieben Tage nach dem Unfall zu einem Restwert von 11.000,00 €. Zwei Tage danach unterbreitete der Beklagte dem Kläger u.a. ein verbindliches Restwertangebot von 20.090,00 €.
In erster Instanz wurde die auf Zahlung der Differenz der Restwerte gerichtete Klage abgewiesen. Das LG Münster (AZ: 15 O 30/14) ging davon aus, der Kläger habe gegen die ihm obliegende Schadenminderungspflicht verstoßen, indem er sein Fahrzeug sieben Tage nach dem Unfall verkauft habe, ohne dem Beklagten die Gelegenheit zu geben, ihm alternative Restwertangebote zu unterbreiten.
Die hiergegen eingelegte Berufung hatte Erfolg.
Aussage
Der Senat kam zu dem Ergebnis, dass dem Kläger weder ein Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot noch eine schuldhafte Verletzung der ihm obliegenden Schadenminderungspflicht zur Last fällt. Der Geschädigte leistet dem Gebot der Wirtschaftlichkeit Genüge, wenn er die Veräußerung seines beschädigten Fahrzeuge zu demjenigen Preis vornimmt, den ein von ihm eingeschalteter Sachverständiger in einem Gutachten, das eine korrekte Wertermittlung erkennen lässt, als Wert auf dem allgemeinen regionalen Markt ermittelt hat (vgl. BGH, Urteil vom 01.06.2010, AZ: VI ZR 316/09). Dabei kann der Geschädigte nach gefestigter Rechtsprechung des BGH regelmäßig dann von einer korrekten Wertermittlung durch den Sachverständigen ausgehen, wenn dieser entsprechend der Empfehlung des 40. Deutschen Verkehrsgerichtstages für das Unfallfahrzeug drei Angebote auf dem maßgeblichen regionalen Markt eingeholt hat (vgl. BGH, Urteil vom 13.10.2009, AZ: VI ZR 318/09).
Etwas anderes gilt nur dann, wenn dem Geschädigten bei der Beauftragung des Sachverständigen ein (Auswahl-)Verschulden zur Last fällt oder für ihn aus sonstigen Gründen Anlass zu Misstrauen gegenüber dem Gutachten besteht. Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Kläger mit dem von ihm vorgenommenen Verkauf des Fahrzeugs für 11.000,00€ nicht gegen das Gebot der Wirtschaftlichkeit verstoßen. Der tatsächlich erzielte Kaufpreis lag sogar geringfügig über dem für den regionalen Markt ermittelten Restwert von 10.750,00 €. Zwar hat der BGH in der Vergangenheit wiederholt entschieden, dass besondere Umstände dem Geschädigten Veranlassung geben können, im Rahmen der Schadenminderungspflicht günstigere Verwertungsmöglichkeiten wahrzunehmen. Einen entsprechenden Ausnahmefall hat der BGH für den Fall bejaht, dass dem Geschädigten vor der Veräußerung eine erheblich günstigere Verwertungsmöglichkeit durch den gegnerischen Haftpflichtversicherer unterbreitet wurde, die er ohne Weiteres hätte wahrnehmen können und deren Wahrnehmung ihm zumutbar gewesen wäre.
Hieraus lässt sich jedoch keine generelle Verpflichtung des Geschädigten herleiten, vor dem Verkauf seines Fahrzeugs dem Haftpflichtversicherer einen gewissen Zeitraum zum Nachweis höherer Restwertangebote einzuräumen. Die überwiegende Anzahl der Oberlandesgerichte vertritt hier die Auffassung, dass den Geschädigten keine solche Wartepflicht trifft. Der BGH hat bereits in seinem Urteil vom 06.04.1993 (AZ: VI ZR 181/92) entschieden, dass der Geschädigte – in einem ähnlich gelagerten Fall – nicht dazu verpflichtet war, das eingeholte Gutachten vor der Veräußerung des Fahrzeugs dem beklagten Haftpflichtversicherer zur Kenntnis zu bringen. Durch diese Rechtsprechung wird der Beklagte auch nicht unzumutbar benachteiligt, da ihm der Einwand bleibt, der Kläger habe das Unfallfahrzeug zu einem zu niedrigen Preis veräußert. Davon war vorliegend jedoch nicht auszugehen.
Der Kläger durfte im Übrigen auf die Feststellung des Restwertes durch den Sachverständigen in seinem Gutachten vertrauen, weil es den vom BGH aufgestellten Anforderungen an ein Sachverständigengutachten entsprach (vgl. BGH, Urteil vom 13.10.2009; AZ: VI ZR 318/08: drei Angebote auf dem maßgeblichen regionalen Markt, die konkret bezeichnet werden). Im Ergebnis musste sich der Kläger daher als Restwert nur den von ihm tatsächlich erzielten Verkaufserlös von 11.000,00 € auf den Wiederbeschaffungsaufwand anrechnen lassen.
Praxis
Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 30.11.1999 (AZ: VI ZR 219/98) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Fallgestaltungen, in denen sich der Geschädigte unter besonderen Umständen andere sich ihm darbietende Möglichkeiten der Verwertung im Interesse der Geringhaltung des Schadens im Rahmen des Zumutbaren zu ergreifen hat, die Ausnahme darzustellen haben und in engen Grenzen gehalten werden müssen. Anderenfalls würde die dem Geschädigten zustehende Ersetzungsbefugnis unterlaufen, die ihm die Möglichkeit der Schadenbehebung in eigener Regie eröffnet und deshalb auf seine individuelle Situation und die konkreten Gegebenheiten des Schadenfalls abstellt.